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Barbara Strohschein
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Ungeschriebene Regeln durchbrechen: Reden wir doch miteinander!

24. April 2015 · 7 min. Lesezeit · Kategorie: Werte

Ungeschriebene Regeln durchbrechen: Reden wir doch miteinander!

Jeder lebt in seiner Welt und weiß wenig von der Welt der anderen. Was beschäftigt einen Museumswärter, wenn er auf die Kunstwerke aufpasst? Welche Qualitäten hat eine Hotelmanagerin? Wie gebildet sind Lastwagenfahrer?

Durch mehrere Zufälle haben mein Freund und ich auf einer Tour durch Mecklenburg-Vorpommern Einblicke in Lebenswelten bekommen, mit denen man in der Regel unter dem Aspekt „Dienstleistungen“ zu tun hat. Weil unsere Erlebnisse auf dieser Fahrt exemplarisch dafür sind, „in Beziehung zu gehen“ und wertvolle Erfahrungen zu machen, will ich davon berichten.

Mehr als nur aufpassen

Ein Aprilsonnabend in Schwerin. Wir entschließen uns, in das Staatliche Kunstmuseum zu gehen, mit Bildern der holländischen Maler aus dem 17.Jahrhundert: Stillleben, Szenen aus dem Alltag, Genrebilder und Porträts, liebevoll im Detail. Vor einem Bild des Malers Hendrik Avercamp (1585-1634) bleibe ich länger stehen: „Eislandschaft“. Auf einem zugefrorenen See mit Uferlandschaft laufen Männer, Frauen und Kinder Schlittschuh. In ihren langen Mänteln und Kleidern, mit runden und spitzen Hüten. Das Bild hält den Augenblick fest, in dem die Menschen sich auf dem Eis vergnügen, sich unterhalten, Eishockey spielen oder Zuschauer sind.

Bei unserem Rundgang fällt uns auf, dass zwischen den Bildern der alten Meister „moderne Kunst“ hängt. Mein Freund fragt einen der Museumswärter, wie er das denn findet. Ganz „political correct“ erklärt er, diese Vermischung von „alt und modern“ habe die Museumsleitung so beschlossen.

„Und was ist Ihre persönliche Meinung dazu?“ fragt mein Freund. Der Wärter lächelt sichtlich verwundert. Nach einem Moment des Zögerns erwidert er: „Ich liebe die alten Meister. Mit den meisten der modernen Gemälde kann ich nicht viel anfangen. Ganz besonders mag ich das Bild: ‚Eislandschaft‘. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“ „Wir haben offensichtlich den gleichen Geschmack!“, erwidere ich.

Und vor dem Bild erzählt er uns seine Geschichte. Als er ein kleiner Junge war, sei er mit seinem Vater öfter ins Museum gegangen und habe ganz besonders dieses Bild geliebt. Kenntnisreich erklärt er uns, wer das Bild in Auftrag gegeben hat und wer darauf abgebildet ist. Es ist ein berührender Moment, wie dieser Mann sich – ohne einen Hauch von falscher Vertraulichkeit – öffnet.

Gastfreundlichkeit statt verschlossene Türen

Wir bedanken uns bei ihm und machen uns auf den Weg. Nach ein paar Kilometern stoßen wir – völlig unerwartet – auf eine prachtvolle Schlossanlage, umgeben von einem herrschaftlichen Park. Wir halten an – und gehen den baumumsäumten Weg zum Eingang des Schlosses: Keine Chance für spontane Gäste! Ein Tagungshotel und offensichtlich auch buchbar für Hochzeitsgesellschaften. Denn vor einem der Nebengebäude des Schlosses sehen wir etwa 20 festlich gekleidete Männer und Frauen lachend und scherzend herumstehen.

Ich will umkehren. Mein Freund stellt fest, die Eingangstür ist offen. Er geht in den Empfangsraum. Nach wenigen Minuten kommt er in Begleitung einer Frau heraus, die nicht eine Kellnerin, sondern die Managerin dieses Hauses ist. Sie hat zwei Tassen Kaffee auf einem Tablett mitgebracht. „Kein Problem“, sagt sie herzlich, „wenn Sie einen Kaffee trinken möchten: hier, bitte.“ Sie stellt die Kaffeetassen auf einen der Tische, die im Freien stehen. Hoch erfreut bedanke ich mich und wir kommen wir ins Gespräch. Welche Aufgaben hat sie, welche Geschichte ist mit dem Schloss verbunden? Und wer kommt hierher? Sie antwortet freudig auf unsere Fragen und zeigt uns die Tagungsräume. Vielleicht können wir hier einmal Seminare durchführen?

Die Managerin schafft Nähe, ohne zu bedrängen. Sie findet die rechten Worte, sie weiß viel und berichtet anschaulich. Sie nimmt sich Zeit und hat sichtlich Freude daran, sich mit uns zu unterhalten. Mein Freund gibt ihr seine Visitenkarte. Sie wirft einen Blick darauf und sagt anerkennend: „Oh, Sie sind Professor! Das muss man sich aber wirklich erarbeiten, oder?“ Mit ihren guten Ratschlägen für den kürzesten Weg zur Autobahn verabschieden wir uns.

Sie tun und wissen viel mehr, als man erwartet

Nachdem wir ein Stück gefahren sind, leuchtet ein Warnsignal auf dem Display unseres Wagens auf. Also zur nächsten Tank- und Raststelle, anhalten. Es ist Sonnabend, später Nachmittag. Keine Werkstatt hat offen. Wir fragen den Kassierer um Rat. Er – ganz besorgt – lässt alles stehen und liegen, kommt mit uns zum Auto und schaut unter die Motorhaube. Nichts Auffälliges. Also den ADAC anrufen. Ein sympathischer ADAC-Mann kommt nach einer knappen Stunde, analysiert mit dem Computer die Elektronik und sagt: „Nichts Gravierendes. Aber wenn Sie so weiterfahren, geht der Katalysator kaputt. Ich sorge dafür, dass Sie sobald wie möglich abgeschleppt werden.“

Bevor wir nach weiterem Warten abfahren wollen, kommt noch einmal der fürsorgliche Kassierer auf den Parkplatz zu uns und will wissen, ob alles geregelt ist. Er freut sich sichtlich über unser positives Feedback.

Der Fahrer mit dem Abschleppwagen kommt, und wir fahren los. „Es tut mir ja leid“, sage ich zu ihm, „dass Sie an einem Sonnabend noch arbeiten müssen statt den Feierabend zu genießen.“ Und er antwortet: „Ach, das bin ich gewöhnt, ich bin heute schon mehrere solcher Strecken gefahren.“ „Und von wo nach wo?“, fragen wir. „Und waren Sie schon immer Fahrer für den ADAC?“ Auf diese Fragen hin, fängt er an zu erzählen.

Er war Sohn eines Kapitäns und Fischers, ist an der Ostsee aufgewachsen und wollte schon als Junge in die Welt hinaus. Aber nicht auf Seewegen, sondern auf Landwegen. Überall in Europa bis nach Russland sei er gefahren und habe viel erlebt. Und natürlich kennt er sich mit Autos aus. Er erklärt, wie eine Zündspule (unser Problem) funktioniert, wie die Elektronik der Autos heute Vor- und Nachteile habe. Und – ich weiß gar nicht, wie wir auf das Thema gekommen sind – er spricht von Thomas Münzer und dem Bauernaufstand in der Lutherzeit und wie Luther zur dieser Revolte stand. Und nicht nur das: auch weiß er viel über die Geschichte und die Geologie Mecklenburg-Vorpommerns. Und so vergeht diese Fahrt mit Gesprächen über das Leben eines gebildeten Lastwagenfahrers. Natürlich will er auch wissen, was wir für Berufe haben, die er respektvoll mit einem „Oha!“ zur Kenntnis nimmt.

Wie Werte gelebt werden

Wir sind Menschen begegnet, die herzlich, hilfsbereit, emphatisch sind und Werte leben, ohne dass das Wort „Werte“ auch nur einmal fällt. Es gehört nicht zu den Alltagsregeln, mit „Dienstleistern“ in ein persönliches Gespräch über den allenfalls üblichen small talk hinaus zu kommen. Die Zeit fehlt, das Interesse ist nicht vorhanden, die festgelegten Rollenmuster verhindern es: Dienstleister dienen im System und werden nicht nach ihren Meinungen gefragt. Was wir erlebt haben, waren Begegnungen auf Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt, in Kenntnis dessen, was sich gehört und nicht gehört – und mit der Überwindung solcher ungeschriebenen Regeln.

Es ist eigentlich ganz einfach, offen und persönlich auf jeden Menschen zuzugehen und Freude daran zu haben, etwas über sie oder ihn zu erfahren. Es gibt – meiner Erfahrung nach – niemanden, der dies einem nicht dankt.