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Barbara Strohschein
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Sie sind der Künstler – Ihre Kreativität ist Ihr Schlüssel zum Glück

25. August 2014 · 13 min. Lesezeit · Kategorie: Werte

Sie sind der Künstler – Ihre Kreativität ist Ihr Schlüssel zum Glück

Nicht nur Leonardo da Vinci, jeder Mensch ist ein Künstler

Kreativität ist ein Schlüssel zum Glück

„Wie soll ich denn kreativ sein?“, fragt ein Finanzbeamter. „Ich kann weder malen, noch komponieren noch singen! Aber ich bin ein guter Heimwerker. Gilt das auch?“

„Natürlich bin ich kreativ“, sagt eine Gärtnerin und zeigt auf ihren kunstvoll angelegten Garten.

„Ich muss mir jeden Tag etwas Neues ausdenken“, behauptet ein Koch.

„Ich schreibe Gedichte, und auch wenn sie nicht veröffentlicht werden, bin ich stolz, dass mir das eine oder andere Gedicht gelingt“, sagt ein Lehrer.

„Mit meinen Kindern zusammen erfinde ich Spiele. Ist das nicht auch kreativ?“ will eine Mutter wissen.

„Mir fällt gar nichts ein, wenn ich einen Aufsatz schreiben soll. Aber wenn ich mit meinem Vater zusammen in seiner Werkstatt bastle, fällt uns immer etwas ein“, erzählt ein Schüler.

Fragen Sie sich doch einmal, in welchen Bereichen Ihres Lebens Sie kreativ sind.

Wenn etwas fehlt, erfinden wir etwas

Seit jeher haben sich Menschen etwas »einfallen« lassen. Warum eigentlich? Weil sie sich etwas wünschen, von einem besseren Leben träumen und Freude daran haben, wenn sie etwas selbst gestalten können.

Menschen haben das Rad, den Wagen, das Auto und die Flugzeuge erfunden, weil sie schneller vorankommen wollten. Sie haben Häuser gebaut, um geschützt zu sein und nicht zu frieren. Sie haben Kleider hergestellt, um nicht nackt herumzulaufen. Einfallsreiche Ingenieure haben Maschinen konstruiert, um schwere Arbeit zu erleichtern. Juristen haben Regeln gefunden, Gesetze niedergeschrieben. Wissenschaftler sind in ihrem Fach kreativ, Künstler in ihrer Kunst, Unternehmer mit ihren neuen Ideen. Eltern mit ihren Kindern, digitale Entscheider und Entwickler in ihren Visionen und Gedankengängen. Eigentlich sind alle auf irgendeine Weise kreativ.

Und wie wir mittlerweile wissen, ist die Lust am Erfinden manchmal viel stärker als die Vernunft. Denn so manche Erfindungen wachsen den Menschen über den Kopf.

Aber nicht nur geniale Erfinder lassen sich etwas einfallen. In vielen Alltagssituationen ist Kreativität gefragt. Ein handwerkliches Problem ist kreativ zu lösen. Wenn ein Lebensmittel für ein Rezept nicht verfügbar ist, kann sich der Koch oder die Köchin etwas einfallen lassen. In einem Gespräch kann durch einen guten Einfall ein neues Projekt entworfen werden. Durch ein passendes Wort, das einem einfällt, kann ein Streit beendet werden. Herausforderungen im Hier und Jetzt, um schöpferisch zu sein.

Wie wir kreativ sind

Jeder Mensch hat das Vermögen etwas zu schaffen. Bei dem Begriff „Vermögen“ denkt man gleich an Geldvermögen. Doch wenn wir das Wort mit anderen Worten in Verbindung bringen, wird deutlich: »Vermögen« bezeichnet das, was Menschen vermögen zu sein und zu tun. Wem etwas »einfällt«, der verfügt über ein Einfallsvermögen: er öffnet sich für eine Idee, die in ihn hineinfällt. Aber wir können ganz gut nachvollziehen, wie Kreativität entsteht. Jeder kreative Akt beginnt mit einer Vorstellung von etwas. Wenn ich mir ein Haus bauen will, dann muss ich mir vorstellen können, wie das Haus aussieht. Wenn ich eine Firma gründen will, stelle ich mir vor, wie diese Firma aufgebaut sein muss, welche Ziele sie hat, wie sie strukturiert ist. Also wird das Vorstellungsvermögen aktiv. Nur wenn eine Vorstellung von »etwas« vorhanden ist, kann das Vorgestellte auch wirklich werden. Doch die Vorstellung allein reicht nicht. Erst wenn die Vorstellung durch ein Handeln umgesetzt wird, können wir von einem kreativen Akt sprechen.

In der konkreten Umsetzung erweist sich, was die Vorstellung taugt. Natürlich ist das Vorgestellte nicht identisch mit dem Realen, was dann entsteht. Und natürlich sind wir am glücklichsten, wenn die Realität, die wir konkret schaffen, unseren Vorstellungen weitgehend entspricht. Es ist ein aufregender Akt, wenn nach und nach etwas real wird: ein Garten, den wir uns wünschen, vorstellen und dann gestalten, ein Büro, das wir neu einrichten, usw.

In diesem Prozess werden weitere „Vermögen“ aus uns herausgelockt:

  • das Unterscheidungsvermögen (ich entscheide, was geht und was geht nicht)
  • das Denkvermögen (wie durchdringe ich die neue Idee),
  • das Urteilsvermögen (zu was taugt die neue Idee, in welchem Kontext),
  • das Erkenntnisvermögen (was bedeutet die Idee),
  • das Durchsetzungsvermögen (wie gelingt es, meine Idee gegen Widerstände in die Welt zu bringen).

Dabei ist es erst einmal gleichgültig, was da erschaffen wird: ein Garten, ein Bild, ein Gesetz, eine Maschine, ein Spiel, ein mathematische Formel, ein Kochrezept oder ein Unternehmen.

„Jeder Mensch ist ein Künstler“?

Diese Proklamation von Joseph Beuys stieß auf viel Widerspruch. Eine solche »Demokratisierung« der Kunst würde Qualitätsgrenzen verwischen, hieß es. Da könnte ja jeder behaupten, er könne etwas. Außerdem seien Menschen so unterschiedlich mit Begabungen ausgestattet, dass man nicht sagen könne, jeder Mensch sei ein Künstler.

Lassen wir alle Werturteile über das, was Kunst und ein Künstler ist, hier beiseite und betrachten das schöpferische Vermögen an sich. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder schöpferische Prozess mit Einfallsvermögen, Vorstellungsvermögen und Umsetzungsvermögen verbunden ist, lässt sich der Beuys’sche Satz als wahr akzeptieren. Dann ist jeder Mensch in diesem Sinn ein Künstler. Denn: Es gibt keinen Menschen auf der Welt, der nicht in der Lage wäre, einen Einfall zu haben, sich etwas vorzustellen und das Vorgestellte umzusetzen. Ob nun dabei das Bild der Mona Lisa oder die Relativitätstheorie entsteht, ein Unternehmen gegründet oder ein Fest gestaltet wird: die Struktur und Dynamik des schöpferischen Prozesses ist immer ähnlich. Ob wir den dies erschaffenden Menschen als Künstler bezeichnen, ist dabei zweitrangig.

Die Debatte über den Menschen als Künstler wurde nicht nur um Beuys geführt, sondern auch von den Romantikern und den amerikanischen Pragmatisten. Sie kritisierten, dass in der Krise der Modernen das menschliche Vermögen verkannt, unterschätzt und geradezu vernichtet wird – zum Nachteil aller. Ihre Kritik bezog sich auf unser Leistungs- und Perfektionssystem, im dem die Menschen gezwungen werden, einer Norm zu entsprechen, wie eine Maschine zu funktionieren und sich anzupassen und unterzuordnen hat, statt selbständig zu denken. Diese Kritik ist leider in sehr vielen Fällen in der Arbeitswelt berechtigt. Die Anforderungen an heutige Leistungsträger stehen im krassen Widerspruch zu der mittlerweile überall geforderten „Eigenständigkeit und Fähigkeit zur Innovation“. Wie sollen sich jedoch diese Fähigkeiten entfalten, wenn nicht eine Atmosphäre für die Kreativität vorhanden oder geschaffen wird?

Woher unsere Einfälle kommen

Herr Meier sitzt noch müde in der S-Bahn und fährt zur Arbeit. Die Häuser rauschen an ihm vorbei, und er träumt vor sich hin: Er sitzt in einer Bucht am Strand mit Irene, seiner Angebeteten; die Sonne scheint, die Wellen kräuseln sich, es ist das Paradies auf Erden. Die S-Bahn hält am Südkreuz. Herr Meier steigt aus, und der Tagtraum ist zu Ende. Er wird ihn wieder träumen. Und eines Tages kauft er sich vielleicht eine Fahrkarte und fährt dorthin, wohin er sich hin geträumt hat.

„Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen.“ Das ist einer der zentralen Sätze des Philosophen Ernst Bloch. Er richtet seinen Blick auf das Vorstellungsvermögen, zu dem auch das Tagträumen gehört.

Wir stellen uns etwas vor, das wir noch nicht haben, das wir noch nicht sind, das wir uns wünschen und hoffen. Wir malen uns aus, wie das Leben besser, anders, schöner sein könnte.

Ernst Bloch hat diese menschliche Fähigkeit des Tagträumens in allen Facetten beschrieben. Weit eindrucksvoller und phantasiereicher als die Theoretiker der Psychologie.

Der Tagtraum vom besseren Leben und die Vision von einer besseren Welt

Nicht nur den privaten Traum von Herrn Meier nimmt der Philosoph ernst. Der Tagtraum ist die erste Stufe zu den Visionen und Utopien von einem besseren Leben. In fast jeder Epoche der Menschheit hat die Verwirklichung von Visionen wiederum zu kulturellem Reichtum und Fortschritt geführt. In seinem mehrbändigen Werk »Prinzip Hoffnung« entwirft Bloch ein enormes Panorama des menschlichen Vermögens, die Welt zu erfinden und zu gestalten. Es gibt keinen menschlichen Lebensbereich, in dem die alltäglichen Tagträume nicht wirken. In potenzierter Form sind das dieVisionen, theoretisch zusammengefasst die Utopien. In der Medizin: die Vision vom gesunden Menschen. In der Architektur: die Vorstellung der herrlichsten Bauten. In der Naturwissenschaft: die phantastische Voraussicht dessen, was einst unmöglich schien, wie etwa zu fliegen, drahtlos zu kommunizieren oder Gigabytes von Daten auf einem Chip zu speichern. Auch hier sind die Beispiele kaum zählbar, an denen deutlich wird, wie Menschen permanent ihre eigene Welt und die Welt um sich verändern und gestalten.

Natürlich will ich nicht unbemerkt lassen, dass dieses menschliche »Visions-Vermögen« nicht nur zum Wohl aller eingesetzt wird, wie es z.B. durch Vision des Tausendjährigen Reiches geschah. Das schöpferische Vermögen ist eine Energie, die dort hin oder da hin gelenkt werden kann – für den Aufbau oder für die Zerstörung, für ein Ja oder ein Nein zum Leben.

Wie uns der Mangel herausfordert

Wäre Herr Meier ganz und komplett glücklich, würde er dann trotzdem vom besseren Leben träumen? Das Glück wandert, es geht vorüber, und der Mangel ist steter Gast. Doch wer diesen Gast freundlich empfängt, wird reich belohnt: Mangel macht erfinderisch.

Stellen wir uns einmal vor, wie es wäre, wenn alles auf der Erde perfekt ist. Nichts fehlt, alles funktioniert. Dieser vollkommene Gleichgewichtszustand wäre das Ende.

Die Menschen wären zu nichts herausgefordert und hätten nichts zu bewältigen.

So sehr dieser Zustand in einer Meditation als erstrebenswert gilt, so unmöglich und so wenig wünschenswert wäre er im konkreten Leben.

Die Instabilität ist ein Charakteristikum aller lebendigen Organismen.

Dem Überfluss folgt Mangel, durch Aufhebung des Mangels entsteht Überfluss.

Der Mangel ist für uns ein Stachel, der wach macht und zur Überwindung zwingt, so wie der Überfluss zur Begrenzung zwingt.

Die Kreativität der Künstler

Doch nicht nur der Mangel bringt Kreativität hervor, sondern die Lust am schöpferischen Tun.

Dieses schöpferische Tun hat das Ziel in sich. Das geschieht, wenn ein Mensch künstlerisch tätig ist. Ein Bild entsteht ja nicht nur, damit man das Wohnzimmer damit schmücken kann. Malen ist ein künstlerischer Ausdruck, um seiner selbst willen. Noch mehr ist das der Fall beim Schreiben eines Gedichtes. Ein Gedicht ist eigentlich zu nichts nütze. Schließlich kann mit einem Gedicht keine Suppe gekocht werden. Aber es kann durch wunderbare Sprachbilder den Leser beglücken.

Musik kann einen Menschen glücklich machen, aber mit Musik kann man kein Haus bauen.

Kreativität schlägt sich in künstlerischen Werken nieder, und zwar in jedem.

Ich würde hier nicht von hoher oder niedriger Kunst sprechen, sondern immer danach fragen: in welchem Bild, in welchem Song, in welchem Roman drückt sich etwas Kreatives aus, in dem wir uns wiederfinden?

Warum die Kreativität in der Kunst uns glücklich machen kann

Neulich war ich mit einer Freundin, die von sich behauptet, wenig von Kunst zu verstehen, im Museum. Wir standen vor einem Bild von Edgar Degas, der auf anmutigste Weise Tänzerinnen in zart-duftenden Ballkleidern auf die Leinwand gebannt hat. Ein Impressionist, der über den Impressionismus weit hinausging. Meine Freundin konnte sich kaum von dem Bild trennen. „Was fasziniert dich da so?“, fragte ich.

Sie trat einen Schritt vom Bild zurück und sann nach. „Ich habe immer davon geträumt, in einem Ballkleid wie eine Prinzessin tanzend durch den Saal zu schweben. Der Abend ist wie ein Traum, der mich aus dem Alltag hebt, ein Fest, auf dem ich mich schön und begehrenswert fühle. In diesem Bild finde ich meinen Traum wieder.“

Aus unserem nachfolgenden Gespräch wurde klar, was sehr oft nicht gesehen oder unterschätzt wird.

Das Wahrnehmen von Kunst trägt dazu bei, die eigenen ungelebten Wünsche zu erkennen.

Kunst kann begreiflich machen und zeigen, welche Seinsmöglichkeiten wir haben.

Die Künste zeigen solche Möglichkeiten auf, oft in schönster Vollendung.

Kunst konkurriert natürlich mit der Alltagswelt, die ebenso wie die Kunst Tagträume in sich birgt. Die Tagträume zeigen sich in der Werbung, in den Medien, in Filmen, in der Mode usw.

Kunst und Alltag – Spiegelbilder von Tagträumen

Unser Leben ist von Tagträumen durchzogen. Träume und Visionen werden durch die Kunst, durch unsere Kreativität im Alltag, in der Arbeit, in unserem Privatleben sichtbar, fühlbar, lesbar, erkennbar. Darunter auch die Träume vom gelungenen Leben, vom vollkommenen Augenblick. Wie Seismographen zeigen die Kreativen unsere Träume auf, schöne wie schreckliche – zur Warnung und Bewusstmachung. Die Künstler erfassen diese Träume wie ein Medium. Je großartiger ihre Begabung, ihr »Vermögen« ist, umso mehr fesseln sie die Menschen. Große Künstler – wie Leonardo da Vinci – wirken weit über ihre Zeit hinaus. Die Schönheit, das Maß und die Vollkommenheit ihrer Werke sind gelungene Sinnbilder unseres Seins. Das ist jedoch kein Grund, nicht in jedem Menschen einen Schöpfer seiner Welt zu sehen.

Wir brauchen den Mut, die Ausdruckskraft dieses Vermögens anzuerkennen und die revolutionäre Kraft, die in ihr steckt. Mit dieser kreativen Kraft sind wir imstande, die Wirklichkeit nicht nur hinzunehmen, sondern sie auch zu verändern.