Beratung · Forschung · Veröffentlichungen · Vorträge
Barbara Strohschein
Barbara Strohschein
Barbara Strohschein
Barbara Strohschein
Barbara Strohschein

Sei wählerisch!

Der Wert der richtigen Wahl

21. März 2014 · 4 min. Lesezeit · Kategorie: Werte

Sei wählerisch!

Wer entscheidet, trifft eine Wahl.
Wer nicht entscheidet, hält alles offen.
Es ist ein gutes Gefühl, sich entschieden zu haben.
Dann passiert etwas, gleich, ob es die richtige oder falsche Entscheidung war.
Aus Fehlern lässt sich lernen.

Es war einmal ein Patient, der einen berühmten Neurologen aufsuchte. Dieser Patient hatte ein enormes Problem. Nach einer Gehirn-Tumor-Operation war er nicht mehr entscheidungsfähig. Wie sich herausstellte, war ihm alles „gleichgültig.“ Er sollte einen Brief schreiben und wusste nicht, ob er einen blauen oder schwarzen Stift nehmen sollte. Er wollte fernsehen, war aber unfähig eine Sendung auszuwählen. Er konnte keine emotionale Beziehung zu etwas oder jemanden aufbauen. Nichts zog ihn an, und nichts stieß ihn ab. Er litt furchtbar unter diesem Symptom.

Niemand hätte damit gerechnet, dass „Gleichgültigkeit“ so fatale Folgen haben kann.

Als ich diese Geschichte las, fragte ich mich, ob wirklich nur eine Gehirnoperation diese Art von gefühlloser Gleichgültigkeit hervorruft. Stehen wir nicht selbst sehr häufig vor einer Fülle von Angeboten und Entscheidungen, die uns überfordern und uns gleichgültig werden lassen?

Am Beispiel dieses Patienten stellte sich heraus, dass Gefühle eine wichtige Voraussetzung dafür sind, auswählen zu können. Im limbischen System des Gehirns werden unentwegt und unbewusst bejahende oder verneinende Gefühle erzeugt. So entsteht sofort Sympathie und Antipathie für etwas oder jemanden. Über diese Gefühle können wir natürlich nachdenken. Aber wie funktioniert das? So haben wir ein echtes Problem, über das noch nicht viel geforscht wurde: Ohne Gefühle und Verstand lässt sich gar keine Wahl treffen. Aber wie treffen wir mit Gefühl und Verstand die Wahl, die uns bekommt?

Zehn Uhr abends: Ulrich sitzt auf der Couch und guckt fern. In dem Moment, in dem er sich einen Kartoffelchip in den Mund schiebt, wird eine Frau erschossen. Er seufzt, aber nicht etwa, weil er den Fernsehmord tragisch findet. Er hat Durst und gleichzeitig keine Lust aufzustehen. Soll er nochmal durch alle Programm zappen, statt diesen blöden Krimi zu sehen? Soll er ins Bett gehen? Ja, das wäre vernünftig. Ach, das wäre am einfachsten. Soll er seine Mutter noch anrufen? Das müsste er tun, aber er kann sich nicht aufraffen. Und so vergeht ein Abend zwischen Unvernunft und Unlust, zwischen Faulheit und innerem Zwang. Ulrich ist nicht besonders glücklich mit diesem Abend. Er weiß, die Chips sind schlecht für die Linie, der Krimi ist todlangweilig. Statt den Abend zu verplempern, sollte er ins Bett gehen oder noch einen Spaziergang machen.

Die Überfülle von Möglichkeiten garantiert das Glück auf Erden nicht. Im Gegenteil. Die Spannung wird immer größer zwischen konkurrierenden Wünschen und Einsichten. Und weil diese Spannung so anstrengend ist, kommt die müde „Was-soll’s-Gleichgültigkeit.“

Warum? Die Wunscherfüllung fliegt einem nicht ins Haus. Man muss etwas dafür tun: nämlich sich fragen, was man wirklich will und dieses Wollen dann mit vollem Herzen akzeptieren. Warum nicht bewusst und entschlossen sagen: Na gut, dann verbringe ich eben den Abend so und nicht anders? Morgen kann ich ja etwas anderes am Abend tun! „Bei Tisch“, schreibt der französische Essayist Michel de Montaigne (1533-1592), „bin ich wenig wählerisch und greife nach dem erstbesten, was gerade vor mir steht und nur ungern wechsle ich von einem Geschmack zum anderen. Gänge und Gerichte in Massen sind mir ebenso zuwider wie Massen überhaupt“. Montaigne stand weder beim Einkauf noch beim Speiseplan vor Entscheidungsnöten. Das überließ er den Bediensteten, die wussten, was sie zu tun hatten. Beim weiteren Lesen seines witzigen Essays stellt sich heraus: Montaigne ist höchst entschieden. Er weiß genau, wann er sich mit wem zu Tisch setzt, was ihm wann schmeckt oder nicht schmeckt. „Die schönste Frucht meiner Gesundheit ist die Lust am Genuss“, schreibt er und erzählt, wie er durch bewusstes Entscheiden sein Leben zelebriert. Er fragt immer: Was passt zu mir und was nicht? Montaigne wusste es: Alles, was uns umgibt und in uns „eindringt“, hat seine Wirkung und hinterlässt Spuren. Das sagen nicht nur die Neurobiologen. Sind wir wachsam, merken wir es selbst. Jeden Abend eine Gewalttat auf dem Bildschirm, das Wochenende mit einem schlecht gelaunten Freund, mittags Fast-Food: alles wirkt – auf Körper, Seele, Geist.

Der Alltag lässt leicht vergessen, wie wichtig es für das Lebensglück ist, wählerisch zu sein und zu fragen, was ist mir etwas wirklich wert und wichtig?