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Barbara Strohschein
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Die Achtung vor uns selbst

Kreativität und Selbstreflexion - Wege aus der Krise

02. Juni 2021 · 12 min. Lesezeit · Kategorie: Sinn, Werte

Die Achtung vor uns selbst

Sind Krisen Zumutungen oder Chancen?

Nehmen wir an, die Pandemie ist überwunden. Doch damit sind die anderen Krisen und deren Ursachen keineswegs überstanden: Der Klimawandel, der Rechtspopulismus, zunehmender Hass, die nationalen und internationalen Konflikte. Die Aufzählung der weltweit ungelösten Probleme ließe sich fortsetzen. Mir geht es jedoch nicht darum, den Blick auf das Negative zu richten. Krisen sind ein Anzeichen dafür, dass Veränderungen unausweichlich sind. Sie fordern heraus, erfinderisch zu sein und umzudenken.

Aber davon ist heutzutage selten die Rede. Es ist weit verbreitet, über den Mangel und die Unfähigkeit zu klagen. Das geschieht besonders dann, wenn sich viele als Opfer der Umstände wahrnehmen und meinen, nichts bewirken zu können. Doch stimmt das?

Wie aus katastrophalen Zeiten blühende Epochen hervorgegangen sind, zeigt uns zum Beispiel die Zeit der Renaissance. Nach dem Hundertjährigen Krieg in Europa, mit Verwüstungen und der Pest, folgte diese Epoche, in der die Kreativität zum Lebensprinzip wurde. Natürlich lässt sich diese Zeit damals mit der heutigen nicht vergleichen. Und es ist müßig zu fragen, welche Zeiten schlimmer oder besser waren.

Wir sollten uns heute nicht unterschätzen. Und dafür ist Selbstachtung vonnöten und die Fragen: Was ist bis jetzt gelungen? Was haben wir bisher wie geschafft? Welche Fähigkeiten stecken in jedem? Nicht von Hybris spreche ich, sondern vom Vertrauen in die menschliche Kreativität und in das Denkvermögen. Die Selbstachtung wächst durch Kreativität und Selbstreflexion, weil sich Menschen dadurch als wirksam erleben. Das ist nicht nur ein Weg für jeden Einzelnen, sondern für die ganze Gesellschaft, die sich auf ihre Ressourcen besinnen kann.

Kreativität  bedeutet erfinderisch sein

Oft wird vorausgesetzt, Kreativität sei das Markenzeichen von Kulturschaffenden. Davon ist aber hier nicht die Rede. In jedem Moment, in dem jemandem eine Lösung für ein Problem einfällt, äußert sich schöpferisches Vermögen. Nicht nur das kulturelle Leben zeichnet sich durch Kreativität aus. Ebenso in der Wissenschaft, ebenso in der Gründung eines Unternehmens, in der Idee zu einem Buch, in einer neu entstehenden sozialen Bewegung steckt Erfindungsreichtum.

Jeder Mensch hat kreatives Potenzial. Eine Gärtnerin ist einfallsreich in der Gestaltung eines Gartens, wie ein Unternehmer mit einer neuen Geschäftsidee; ein Lehrer, der die Phantasie seiner Schüler anregt, sowie eine Dichterin, die ein Poem verfasst. Eine Mutter denkt sich Spiele für ihre Kinder aus, und ein Team findet in einem Workshop eine Lösung für einen seit langem schwelenden Konflikt.

Jeder kreative Akt beginnt mit einer Mangelerfahrung und der Lust, etwas zu gestalten. Der Mangel fordert heraus, das zu kreieren, was noch fehlt. Die so entstehende Aufbruchstimmung beginnt mit einer Vorstellung dessen, was erstrebenswert ist und getan werden kann. Diese Aufbruchstimmung motiviert, durch Handeln eine Idee in die Realität umzusetzen. Zweifellos kann Kreativität sich auch destruktiv äußern. Und insofern ist es immer wichtig zu fragen, wem und was sie dienen soll: Der Lebensfreude, der Humanität oder der Zerstörung.

Wie Selbstreflexion zur Selbstachtung wird

Haben Sie sich schon gefragt: Wer bin ich? Was soll ich tun? Was wird aus mir? Wohin soll ich gehen? Wenn ja, dann sind Sie dem philosophischen Denken sehr nahe. Denn mit diesen Fragen begann das Philosophieren vor mehr als zweitausend Jahren. Und damit erwachte das Interesse des Menschen an sich selbst.

Aber sind denn alle Menschen dazu fähig, über sich nachzudenken? Diese Frage zu verneinen, würde bedeuten, den Menschen schlechthin keine Intelligenz und keine Entwicklung zuzugestehen. Jeder Mensch hat ein Bewusstsein. Jeder Mensch ist in der Lage, Fragen zu stellen, sich etwas vorzustellen und über sich nachzudenken. Viele Beispiele zeigen, wie Männer und Frauen seit jeher scheinbar ausweglose Lebenslagen durch Ideen und Tatkraft überwunden haben.

Wer sich Selbstachtung durch Selbstwirksamkeit aneignen will, muss keine philosophischen Bücher lesen. Ich betone dies deshalb, weil sich in vielen Köpfen festgesetzt hat, Philosophie sei nur etwas für Supergescheite.

Mir geht es hier nicht um Fachwissen, sondern um eine positiv besetzte Selbstwahrnehmung durch Selbstreflexion. Sie äußerte sich in dem berühmten Satz Descartes´, mit dem er an die menschliche Ratio appelliert: „Ich denke, also bin ich.“ Auch wenn wir wissen, dass Verstand und Vernunft nicht der Weisheit letzter Schluss sind, so ist es um so wichtiger, durch ein gutes Selbstgefühl über sich Gewissheit zu finden. Denn im Nachdenken und -fühlen, kann sich ein Lebensmut ausdrücken. Dieser manifestiert sich in Willens-Sätzen wie diesen: „Ich will wissen, wer ich bin und was ich kann.“ „Ich will selbst über mein Leben entscheiden.“ „Ich will ein sinnvolles Leben leben.“

Das verschwiegene Unglücklich-Sein

Gerade in Krisen-Zeiten werden weit mehr negative Einstellungen aktiviert als Zuversicht. Verbunden sind diese Einstellungen mit Schuldgefühlen, Kränkungen, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Jede/r kennt diese Gefühle und redet nicht darüber, aus Sorge, als schwach zu gelten. Stattdessen werden diese Stimmungen durch Jammern, Klagen, Wut und Hass ausagiert. Nicht nur im alltäglichen Umgang, sondern auch im Netz wird der Kampf um die Anerkennung durch Abwertung anderer zu einem sozialen Problem. Muss man sich damit abfinden, dass diese Umgangsformen in Krisenzeiten unvermeidlich sind? Ja, weil es ein Faktum ist. Nein, indem wir über die Ursachen nachdenken: Schuldgefühle bremsen die Aktivität und die Phantasie. Kränkungen verletzen und machen aggressiv. Hilflosigkeit schwächt, Hoffnungslosigkeit entmutigt. Das sind energieraubende psychische Vorgänge, die belasten und sogar krank machen können. Wer solche Probleme kennt, kann anfangen, sich selbst zu beobachten und sich zu fragen: Welche Schuldgefühle habe ich? Was und wer kränkt mich? Etwa ich mich selbst? Warum fühle ich mich hilflos? Worauf hoffe ich?

Was wir von Philosophen lernen können

An den Lebensgeschichten der vier Philosophen Sören Kierkegaard, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Ernst Bloch lässt sich zeigen, wie Philosophen mit diesen Problemen umgegangen sind.

Die Überwindung von Schuld - Sören Kierkegaard (1813 - 1855)

Kierkegaards Grundfrage war: Wer denkt, fühlt und handelt? Das Subjekt – niemals ein System. Sein Grundantwort: Also befasse ich mich mit dem Subjekt und seinen Konflikten. Diese kann man überstehen durch Selbstbestimmung in drei Stadien: dem ästhetischen, ethischen und religiösen. Die Wirklichkeit soll bewusst und sinnlich erlebt werden: also ästhetisch. Jeder ist verantwortlich für sich und sein Handeln: also ethisch. Der freie Wille für Gott, ohne sich der Institution Kirche unterzuordnen, schafft inneren Frieden: also religiös. So schrieb Kierkegaard versöhnlich: „Sympathie soll man haben, aber diese Sympathie ist erst wahrhaftig, wann man recht tief sich selber eingesteht, dass das, was einem Menschen passiert ist, allen passieren kann. Da erst nützt man auch sich selbst und anderen.“

Kränkungen überwinden lernen - Arthur Schopenhauer (1788 - 1860)

Schopenhauerhielt Vorlesungen, die kaum jemand besuchte. Seine Veröffentlichungen stießen auf wenig Resonanz. Er nannte sich selbst „der verkannte Niemand“. Sein Selbstwertgefühl resultierte jedoch aus der Sicherheit: „Das, was ich denke, ist richtig“. Es entsprang auch seinem unbedingten Wollen zur Selbstkontrolle. Sinngemäß: „Ich muss meine Gefühle und Triebe beherrschen, damit ich Herr im eigenen Haus bleibe.“ Als er am Ende seines Lebens durch die Veröffentlichung eines Essaybandes berühmt wurde, war er stolz und glücklich. Aber es kam ihm weit mehr darauf an, sich zu bewundern, als bewundert zu werden. Er schrieb: „Da unser größtes Vergnügen darin besteht, bewundert zu werden, die Bewunderer aber, selbst wo alle Ursache wäre, sich ungern dazu herbeizulassen; so ist der Glücklichste der, es dahin gebracht hat, sich selbst aufrichtig zu bewundern.“

Über die Kunst, über sich hinauszuwachsen - Friedrich Nietzsche (1844 - 1900)

Nietzsche schrieb ein Buch nach dem anderen, reiste herum und fühlte sich nirgendwo heimisch. Nach einem kurzen Erfolg als junger Professor verschwand er von der öffentlichen Bildfläche. Aus der geistigen Umnachtung, die ihn 1889 heimsuchte, erholte er sich nie wieder. Wie ein Mahner rief er auf, die alten Werte, z. B. den des Gehorsams, umzuwerten, mit dem Ziel, geistige Freiheit zu erlangen: Es gelte, über sich hinauszuwachsen. Schwach und hilflos sind wir dann, so Nietzsche, wenn wir uns abhängig machen und nicht fragen: Was kann ich werden, was ich noch nicht bin? Er schrieb: „Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer.“

Über die Fähigkeit, das Hoffen zu lernen - Ernst Bloch (1885 - 1977)

Bloch bezeichnete sich selbst als Emigrant in den USA: „I am Mister Nobody.“ Erst 1949 erhielt er in Leipzig eine Philosophie-Professur. Doch die Anerkennung, die ihm zunächst zuteil wurde, endete 1956. Bloch schrieb im hohen Alter, halb blind, sein Hauptwerk Experimentum Mundi. Mehrfach in seinem Leben hatte er fliehen und alles zurücklassen müssen. Doch er war erfüllt von den Ideen der Hoffnung. Mit dem Tagtraum beginnt für ihn die Veränderung. Jeder Mensch sei des Tagtraums fähig. Er schrieb: „Es ist nicht die Zeit, wunschlos zu sein, die Entbehrenden denken auch gar nicht daran. Sie träumen davon, dass ihre Wünsche einmal erfüllt werden. Sie träumen davon, wie die Redensart heißt, bei Tag und bei Nacht, also nicht nur bei Nacht. Das wäre auch, da Entbehren und Wünschen tagsüber am wenigsten aussetzen, zu sonderbar. Es gibt Tagträume genug, man hat sie nur nicht ausreichend beobachtet.“

Ein Fazit

Wenn immer mehr Menschen auf ihre Fähigkeiten vertrauen, besteht eine Chance zum Aufbruch. Dabei geht es nicht nur um den Einzelnen, sondern um eine Gesellschaft, die sich zutraut, Krisen zu überwinden, die zusammenhält und dadurch mehr Achtung vor sich gewinnt als bisher. Denn Selbstachtung ist eine Voraussetzung dafür, nicht kleinmütig an Krisen zugrunde zu gehen, sondern an ihnen zu wachsen.